Wahrheit

Die materielle Weltsicht - allen voran die Wissenschaft - aber in der Folge auch die meisten Menschen - geht von einer objektiven Wahrheit aus.

Was heißt das?

Eine gleiche Wahrheit für alle!

"Das ist doch auch so", werden jetzt viele denken.

So so, ist es das?

Es wird aber sicher niemand bestreiten, dass es - abgesehen von ein paar wenigen grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, über die es tatsächlich übereinstimmende Ansichten gibt - vor allem sehr sehr viele unterschiedliche Ansichten darüber gibt, was denn nun diese eine Wahrheit sei.

Die Menschheit ist eigentlich einen nicht zu unterschätzenden Teil ihrer Zeit - wenn nicht gar die meiste Zeit - damit beschäftigt darüber zu streiten, was denn nun diese eine objektive Wahrheit ist. Da kann man wirklich nur froh sein, dass wenigstens ein paar Dinge wirklich abschließend geklärt sind, z.B. dass die Erde eine Kugel ist. (Viel mehr Beispiele fallen mir allerdings auch gerade nicht ein.)

Diese eine objektive Wahrheit hat abgesehen von dem vielen Gezerre und Gestreite noch ein paar andere Nachteile:

Da es nur eine Wahrheit für alle gibt, braucht es auch immer nur einen, um sie herauszufinden und festzulegen: den Experten.

Der Experte erledigt das für alle anderen und die müssen es dann glauben. Auf den ersten Blick klingt das sehr praktisch: Braucht man sich doch nicht selbst darum zu kümmern.

Auf den zweiten Blick ist es dann aber doch nicht so praktisch: Es ist eine äußere Wahrheit und sie gilt, egal was das eigene Innere dazu sagt. Es spielt keine Rolle, ob diese Wahrheit in den eigenen Gefühlen, im eigenen Empfinden und im eigenen Handeln zu Konflikten führt: "Der Experte hats gesagt und damit basta!" Da muss man nun sehen, wie man damit klarkommt.

Der Einzelne ist an der Wahrheit nicht beteiligt, er ist auf die Experten angewiesen. Und falls er zufällig das Glück hat, selbst ein Experte zu sein, so gibt es immer noch genügend andere Bereiche, wo er genauso dämlich dran ist, wie alle anderen.

Die Alternative wäre eine subjektive Wahrheit: Der Einzelne entscheidet selbst, was für ihn wahr ist. Das macht natürlich nur Sinn, wenn darüber Einigkeit besteht, dass das nicht nur für einen selbst gilt, sondern dass auch die anderen Menschen Ansichten haben dürfen, die von den eigenen verschieden sind.

Das hat auf jeden Fall einen Vorteil: Man muss sich nicht mehr streiten. Man muss auch nicht diskutieren. Und man muss auch nicht überzeugen. Welche Erleichterung!

Die Erleichterung ist aber nicht von langer Dauer, denn sofort meldet sich das erste Problem: Wie soll man das denn alles selbst herausfinden? Vorher hatte man die Experten und jetzt soll man alles selbst machen? Unmöglich!

Machen wirs kurz:

Dabei ist selbstverständlich, dass die subjektive Wahrheit von Mensch zu Mensch verschieden sein kann.

Für diese Wahrheit eignet sich auch der Begriff Nützlichkeit.

Die objektive Wahrheit wird durch subjektive Nützlichkeit ersetzt. Die Erkenntnisse anderer Menschen können eine Hilfe sein, werden aber im praktischen Gebrauch an die eigenen Bedürfnisse angepasst.

Die Frage ist nicht mehr "Ist es wahr?" sondern "Funktioniert es für mich?".

Und um all die vielen Wahrheiten, die für das eigene Leben gerade gar nicht relevant sind, muss man sich nicht mehr kümmern - außer man will das. Dieser Wahrheitsbegriff entbindet den Menschen davon, möglichst viel von dieser objektiven Wahrheit im eigenen Kopf horten zu müssen. Das schafft Platz fürs Wesentliche.

Denn seien wir mal ehrlich: Dass die Erde eine Kugel ist, ist für die Raumfahrt sicher wichtig. Wäre die Erde eine Scheibe oder ein Würfel müsste man vermutlich raumfahrttechnisch einiges anders machen. Aber für mich? Ich bin kein Raumfahrer! Na ja, immerhin ist es beruhigend, das ich beim Spazierengehen nicht irgendwo herunterfallen kann, weil die Erde ja eine Kugel ist. Aber ich hätte sowieso ein bisschen darauf geachtet.

Andererseits gibt es Fragen, die für mich persönlich von wirklich brennendem Interesse sind:

Wie komme ich möglichst leicht und mit möglichst viel Spaß dabei zu möglichst viel Geld?

(Bücherschreiben ist diesbezüglich mein neuster Versuch.)

Es ist zu dumm, dass sich Experten, die doch sonst so viel herumtönen, in dieser Frage eher bedeckt halten. Und auch Schule und Studium haben nicht wirklich viel dazu hergegeben. Da muss mans dann eben selbst herausfinden.

Nun ist es genau genommen so, dass es sich bei objektiver und subjektiver Wahrheit nicht um Alternativen handelt. Sondern die subjektive Wahrheit schließt die objektive Wahrheit ein. Die subjektive Wahrheit ist der allgemeinere Begriff und die objektive Wahrheit ist eine spezielle Erscheinungsform von ihr.

Das sage ich nicht etwa, weil ich ein Fan von subjektiver Wahrheit bin, sondern das ist wirklich so:

Wenn die subjektiven Wahrheiten nahezu aller Menschen übereinstimmen, dann sieht es aus wie objektive Wahrheit. Und es gibt eben diese Bereiche, wo das der Fall ist:

Kein Mensch will heute mehr darüber streiten, dass die Erde eine Kugel ist.

Aber früher haben die Leute darüber gestritten! Und heute ist es klar. Daraus wiederum könnte man schließen, dass über all die Dinge, über die heute gestritten wird, irgendwann Einigkeit herrschen wird. (Und damit dann möglichst der eigene Standpunkt die Wahrheit ist, streiten wir munter weiter, um uns auch möglichst durchzusetzen.)

Aber es gibt in der Tat Bereiche, wo der Begriff der objektiven Wahrheit nicht anwendbar ist und niemals anwendbar sein wird - und das sind nicht wenige und auch nicht unwesentliche Bereiche.

nächstes Kapitel: Konzepte (Materielle Weltsicht)