Die richtige Trennlinie zwischen Erfahrung und Verhaltensänderung finden

Ich hatte den Prozess im letzten Kapitel als das Handeln entgegen der Materialisierung bezeichnet. Das ist der Begriff, der mir dazu intuitiv einfiel und er passt auch insofern, als man anders handelt, als es der Anschein der materiellen Welt vorzugeben scheint.

Gleichzeitig ist dieser Begriff aber auch missverständlich, denn man handelt nicht entgegen knallharten materiellen Tatsachen.

Sich der Angst vor dem Tod zu stellen bedeutet nicht, dass man dafür sterben muss und es bedeutet auch nicht, sich in eine reale Todesgefahr zu begeben. Es bedeutet, dass man sich in einer Situation, in der man sich bisher durch eine unsinnige und überflüssige Angst vor dem Tod einschränken ließ, nun nicht mehr einschränken lässt. Das heißt man reagiert nicht mehr auf die scheinbare Einschränkung. Dadurch aber wird die Angst vor dem Tod (die unsinnige) erst recht nach oben gerufen. Man wird für eine gewisse Zeitspanne vielleicht das Gefühl haben "Das ist mein Ende" - nur um dann aber praktisch zu erfahren, dass es das doch nicht ist. Und damit ist man eine Begrenzung los. Sich der Angst vor dem Tod zu stellen bedeutet aber nicht, dort über die Angst hinauszugehen, wo sie einen berechtigten und notwendigen Schutz darstellt!

Warum erzähle ich das hier?

Es ging im letzten Kapitel um eine Verhaltensänderung, die einen sehr wirksamen Transformationsprozess einleitet:

Das Handeln folgt einem inneren Wissen anstatt dem Anschein der äußeren Welt. Diese Phase ist von dem Widerspruch geprägt, dass sich der Anschein der äußeren Welt aber noch nicht gleich ändert und man noch eine gewisse Zeit den Druck spürt, doch wieder in das alte Verhalten zurürckzuverfallen. Gleichzeitig finden auf den verschiedensten Ebenen aber bereits tiefgreifende Änderungen statt.

Dieser Transformationsprozess ist aber überhaupt erst notwendig geworden, weil vorher eine bestimmte unerwünschte oder begrenzende Wirkung aufgebaut wurde. Er kehrt eine andere Entwicklung um.

Nun ist es aber so, dass je nachdem wie weit jener erste Prozess des Entstehens von unerwünschten Erfahrungen oder Begrenzungen fortgeschritten war, eine vollständige Umkehrung des Verhaltens - wie sie vielleicht das theoretische Ideal wäre - nicht möglich ist. Die Freiheitsgrade für die Verhaltensänderung sind dann eingeschränkt.

Das heißt allerdings nicht, dass man deshalb auf die Verhaltensänderung verzichten muss: Indem man konsequent die vorhandenen Freiheitsgrade nutzt, kehrt sich die Entwicklung um und die Freiheitsgrade nehmen wieder zu. Irgendwann wird sich auch die komplette Verhaltensänderung vollzogen haben.

Das hängt mit dem Grad der Materialisierung zusammen.

Wenn man eine bestimmte Idee lange Zeit für wahr hält, dann durchläuft sie einen Entwicklungsprozess:

  1. Zuerst verwirklicht sie sich nur in den Gefühlen.
  2. Dann kommen durchaus reale Erfahrungen hinzu, die aber noch nicht materiell untermauert sind.
  3. Und schließlich treten materielle Wirkungen ein

Das ist toll, wenn die Idee zu Erfahrungen führt, die man sich wünscht.

Das ist weniger toll, wenn es sich um eine unerwünschte Erfahrung handelt.

Tatsache ist, dass in Phase 3 die Einschränkungen oder Probleme als materielle Tatsachen real geworden sind. Das bedeutet auch, dass sie das Verhalten ganz real beeinflussen und zwar auf eine Weise, aus der man vielleicht nicht einfach ausbrechen kann, ohne irgendeine Art von Crash zu produzieren.

Wenn hier davon die Rede ist, das Verhalten zu ändern - sich zu stellen - dann bezieht sich das nicht auf den Teil des Verhaltens der nun durch ganz reale materielle Tatsachen als Verhalten erzwungen wird: Reale materielle Grenzen schränken das Verhalten ganz real materiell ein.

Das ist wahrlich kein schöner Satz für ein Buch, das von Freiheit handelt und es ist auch keine schöne Tatsache für ein Ich, das angeblich unbegrenzt ist.

Wollen wir mal sehen, was da zu retten ist:

Genaugenommen sind die Phasen 1, 2, 3 (Gefühle, Erfahrungen, materielle Auswirkungen) keine Phasen, sondern Schichten, die sich nacheinander aufeinander aufbauen:

1. Zuerst sind da nur Gefühle
2. dann kommen Erfahrungen hinzu
3. dann kommen materielle Wirkungen hinzu

In Phase 1 und 2 verhielt man sich auf eine Weise, die noch nicht materiell erzwungen war. Man verhielt sich so aufgrund von bestimmten Annahmen.

In Phase 3 sind materielle Wirkungen da und nun muss man sich so verhalten, ob man will oder nicht.

Aber:

Entsprechend den Schichten 1 und 2 gibt es auch in Phase 3 immer noch ein Verhalten, das über die erzwungene Verhaltensänderung hinausgeht. Das heißt man handelt immer noch der Idee entsprechend in einem Ausmaß, das über den nun materiell bedingten Verhaltensanteil hinausgeht. Und das ist der Bereich des Verhaltens, den man jederzeit ändern kann und das ist auch der Teil des Verhaltens auf den sich der Begriff des sich stellens bezieht.

Machen wir dazu ein Beispiel, das viele kennen (zumindest würde es viele Erscheinungen unserer gegenwärtigen Welt nicht geben, wenn es nicht viele kennen würden):

Man spart. Sparen ist hier nicht im Sinne von Vermögensaufbau und Geld anlegen gemeint, sondern im Sinne von die billigere Variante kaufen oder bestimmte Dinge, die man gerne hätte, gar nicht kaufen. Die Kehrseite dieser Art von Sparen ist, das man sich das nicht leistet, was man eigentlich gerne hätte.

Welche Annahme steht hinter diesem Verhalten?

"Ich kann mir das nicht leisten, was ich eigentlich will"

oder

"Ich habe nicht genügend Geld für die Dinge, die ich eigentlich gerne hätte"

"Gut" könnte man denken, "ich stelle mich dieser Idee, kehre das Verhalten um und kaufe mir eine Yacht."

Das wird wohl so nicht bei allen Menschen funktionieren - mich leider eingeschlossen.

Die Idee ist hier nicht nur eine Idee sondern auch eine materielle Tatsache, welche das Verhalten einschränkt.

Aber während man sich bestimmte Dinge tatsächlich nicht kaufen kann, verhält man sich immer weiter so in einem Bereich, in dem es nicht in dieser Form nötig wäre:

Und für all diese Dinge wäre durchaus das Geld da, aber man gönnt sie sich trotzdem nicht - weil man eben spart.

Sich zu stellen bedeutet nun, genau diesen Bereich des Verhaltens zu ändern.

Und indem man das aber tut, wird man mit einer Situation konfrontiert, in der das Befürchtete ganz real einzutreten scheint:

Man kauft sich eben doch die teure Markenhose und hinterher packt einen das schlechte Gewissen:

"Das war ein Fehler! Das treibt mich in den Ruin"

Diese Empfindungen können sehr real und sehr stark sein. Und deshalb ist es so wichtig, diesen Unterschied zu begreifen zwischen dem was sehr überzeugend wahr zu sein scheint und dem was - zumindest momentan - eine materielle Tatsache ist.

Es hat keinen Sinn gegen materielle Tatsachen anzukämpfen, aber da wo die Freiheitsgrade existieren, kann man den Prozess umkehren und die Freiheitsgrade werden sich vergrößern. Und irgendwann wird man vielleicht völlig überrascht feststellen, dass nun auch eine Yacht im Bereich des Möglichen liegt.

Ich nenne das die richtige Trennlinie finden zwischen Erfahrung und Verhaltensänderung - die richtige Trennlinie zwischen dem Bereich, wo es vor allem darum geht, sich zu öffnen und dem Bereich, wo es darum geht, mutig neue Weg zu beschreiten.

Man beachte dabei, dass auch Verhalten bzw. Handeln Teil der Erfahrung sein kann. Das heißt, es kann sein, dass es zu einer Erfahrung gehört, zu einem bestimmten Verhalten oder Handeln durch materielle Tatsachen gezwungen zu sein. Es ist durchaus nicht so, dass Erfahrung sich immer nur auf Gefühle und Ideen bezieht und dass man Verhalten beliebig ändern könnte.

Indem man sich dem aber öffnet, werden sich zunehmend die Lösungen zeigen.

Denn dass man ein bestimmtes Verhalten vorübergehend als gegebene Tatsache akzeptiert heißt nicht, dass man seinen Wunsch, es anders haben zu wollen, verleugnen muss.

Vielmehr kann man die Aufmerksamkeit konsequent auf die vorhandenen Freiheitsgrade richten, und das wird zu umfassenden Änderungen führen, die auch die scheinbar unumstößlichen materiellen Tatsachen betreffen.

Verhaltensänderungen haben auch ihren richtigen Zeitpunkt. Eine Verhaltensänderung, die heute noch absolut nicht möglich ist, kann wenige Wochen später schon völlig mühelos vonstatten gehen. Es ist ein Gesamtprozess, in dem sich Schicht um Schicht löst und klärt, um zu ihrer natürlichen Ordnung zurückzukehren.

Nachdem ich den unangenehmen Pflichtteil abgehakt habe darauf hinzuweisen, dass sich stellen nicht bedeutet, sinnlos gegen (vorübergehend) tatsächlich materialisierte Grenzen anzurennen und dabei aber gleichzeitig auf den dennoch vorhandenen Weg in die Freiheit deutlich hinwies, möchte ich nicht versäumen, noch eines klarzustellen:

Die tatsächlichen Freiräume für Verhaltensänderungen sind unendlich viel größer, als man denkt!

Es ist übrigens noch interessant für das Beispiel mit dem Sparen die Lösungsstrategien der beiden Weltsichten mal direkt nebeneinander zu sehen:

materielle Weltsicht: "Indem ich weniger Geld ausgebe, werde ich mehr Geld haben."

geistige Weltsicht: "Indem ich konsequent nach der Idee zu handeln beginne Ich kann mir das leisten, was mir wirklich wichtig ist, werden meine finanziellen Mittel wachsen. Ich werde mir immer mehr von dem leisten können, woran mir wirklich etwas liegt."

andere Variante:

materielle Weltsicht: "Ich muss für schlechte Zeiten vorsorgen"

geistige Weltsicht: "Es wird mir immer ausreichend Geld zur Verfügung stehen."

nächstes Kapitel: Krise und Transformation (Entkopplung)